«Du bist nicht die Arbeit, die du machst, du bist die Person, die du bist»
You are not the work you do; you are the person you are.
.
Irgendwann bin ich auf dieses Zitat von Toni Morrison gestossen – und ich habe es mir sofort einverleibt. Toni Morrison war eine afroamerikanische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin, deren Romane sich intensiv mit Identität, Zugehörigkeit und Würde beschäftigen. Vielleicht berührt mich ihr Satz gerade deshalb so, weil er diesen Kern in einer radikal einfachen Form auf den Punkt bringt – und weil er für den Ruhestand ebenso gilt wie für jede andere Lebensphase. Es hat mich so sehr bewegt, dass ich es seither wie einen inneren Leitgedanken in meiner Arbeit als Coach für Ruhestand mit mir trage.
Als Coach für Menschen im (angehenden) Ruhestand begegne ich immer wieder demselben Satz – manchmal laut ausgesprochen, manchmal nur als Schmerz in den Augen:
«Aber wenn ich nicht mehr arbeite – was bin ich dann noch?»
Viele von uns haben jahrzehntelang gehört (und selbst geglaubt):
«Ich bin Ingenieurin.» – «Ich bin Lehrer.» – «Ich bin Managerin.» – «Ich bin selbstständig.»
Unsere Berufsbezeichnung wurde zu einem zweiten Vornamen. Kein Wunder, dass der Schritt in den Ruhestand sich für viele weniger wie eine Phase der Freiheit, sondern eher wie ein Identitätsverlust anfühlt.
Genau darum liebe ich dieses Zitat:
Du bist nicht die Arbeit, die du machst; du bist die Person, die du bist.
Es ist nicht nur ein schöner Spruch – es ist eine Einladung. Eine Einladung, dich neu kennenzulernen.
Wenn die Visitenkarte verschwindet
Vielleicht hast du es schon erlebt:
■ Auf einer Feier fragt jemand: «Und was machst du beruflich?» Früher kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. Heute zögerst du. Sagst du: «Ich bin im Ruhestand» – und fühlst dich plötzlich klein?
■ Du wachst morgens auf und merkst: Kein voller Kalender, keine Meetings, keine E-Mails. Und statt Erleichterung kommt erst einmal Leere.
■ Du merkst, wie oft du in Sätzen denkst wie: «Früher war ich wichtig.» – «Früher hatte ich Verantwortung.» – «Früher hatte ich eine Rolle.»
All das ist normal. Der Ruhestand ist nicht einfach nur «viel Freizeit» – er ist eine Lebensübergangsphase, in der du dein Selbstbild neu sortierst.
Du warst immer mehr als dein Job
Wenn wir ehrlich sind: Deine Arbeit war nie die ganze Wahrheit über dich.
Du warst schon immer auch:
■ jemand, der zuhört
■ jemand, der Humor hat
■ jemand, der Lösungen findet
■ jemand, der andere unterstützt
■ jemand, der neugierig ist
■ jemand, der Werte hat – Gerechtigkeit, Freiheit, Ruhe, Familie, Kreativität …
Nur: Im Berufsleben waren diese Anteile oft an Aufgaben gebunden, an Ziele, an Projekte.
Im Ruhestand geht es nicht darum, «nichts mehr zu machen». Es geht darum, dass du nicht mehr über deine Arbeit definiert bist.
Es geht darum, dich zu fragen:
Wer bin ich, wenn niemand mehr meine Leistung bewertet?
Identität im Ruhestand: Drei Fragen, die ich meinen Klient:innen stelle
Wenn ich Menschen im Übergang in den Ruhestand begleite, arbeiten wir nicht zuerst an «Beschäftigung», sondern an Identität.
Hier drei Fragen, die dabei unglaublich kraftvoll sind – vielleicht magst du sie dir in Ruhe aufschreiben:
1. Welche Teile meiner Arbeit haben mir wirklich Freude gemacht – und welche nicht?
Vielleicht war es:
■ das Mentoring von Jüngeren
■ das Organisieren
■ das Problemlösen
■ das Kreativsein
■ das Strukturgeben
Die Frage ist: Wo können diese Fähigkeiten jetzt weiterleben – ohne dass es «Arbeit» im alten Sinn sein muss?
2. Wie würden Menschen, die mich lieben, mich beschreiben – ohne meinen Beruf zu erwähnen?
Frag sie ruhig konkret:
«Wenn du mich jemandem beschreiben würdest – ohne meinen Job – was würdest du sagen?»
Oft hören wir dann Dinge wie:
«Du bist grosszügig.» – «Du bringst Ruhe rein.» – «Du bist voller Ideen.»
Das ist dein wahres Kapital.
3. Welche Rolle möchte ich im nächsten Lebensabschnitt einnehmen?
Beispiele:
■ Lernende / Lernender
■ Mentorin / Mentor
■ Kreative / Kreativer
■ Reisende / Reisender
■ Grossmutter / Grossvater
■ Ehrenamtliche / Ehrenamtlicher
■ Gestalter:in der eigenen Lebenszeit
Du darfst diese Rolle bewusst wählen – statt dich einfach nur treiben zu lassen.
Grenzen sind auch im Ruhestand wichtig
Viele glauben: «Im Ruhestand habe ich doch nur noch Zeit – wozu brauche ich Grenzen?»
Aber das Gegenteil ist der Fall.
Wenn du deine Identität nur noch über «Hilfsbereitschaft» definierst, passiert schnell Folgendes:
■ Du passt ständig auf die Enkel auf, obwohl du eigentlich erschöpft bist.
■ Du übernimmst jedes Ehrenamt, in das man dich «nur mal kurz» reinfragt.
■ Du bist «immer erreichbar», weil «du ja jetzt Zeit hast».
Und plötzlich ist dein Ruhestand voller Pflichten – nur ohne Gehalt.
Hier knüpft der Satz wieder an:
Du bist nicht die Arbeit, die du machst – auch nicht die unbezahlte.
Du darfst Grenzen setzen. Du darfst sagen:
■ «Ich passe gern auf die Enkel auf – aber nicht jede Woche dreimal.»
■ «Ich engagiere mich gern – aber nur an einem Nachmittag pro Woche.»
■ «Ich bin für euch da – aber ich brauche auch Zeit nur für mich.»
Grenzen sind kein Egoismus, sie sind Selbstrespekt.
Ein kleiner Übungsimpuls: Dein «Ich bin»-Zettel
1. Nimm ein Blatt Papier und schreib oben gross hin:
«Ich bin …»
2. Schreibe nun mindestens 20 Sätze, ohne deinen früheren Beruf zu erwähnen. Zum Beispiel:
■ Ich bin neugierig.
■ Ich bin jemand, der anderen gern zuhört.
■ Ich bin jemand, der Natur liebt.
■ Ich bin jemand, der gerne Neues ausprobiert.
3. Hänge diesen Zettel an einen Ort, den du oft siehst.
Damit erinnerst du dich jeden Tag daran: Deine Identität ist reichhaltiger, bunter und tiefer als jede Berufsbezeichnung.
Fazit: Der Ruhestand ist kein Ende – er ist eine Rückkehr zu dir
Der Übergang in den Ruhestand konfrontiert uns mit einer schlichten, aber tiefen Wahrheit:
Du bist nicht die Arbeit, die du machst; du bist die Person, die du bist.
Als Coach sehe ich meine Aufgabe darin, dich dabei zu begleiten,
■ deine bisherigen Rollen zu würdigen,
■ loszulassen, was nicht mehr zu dir passt,
■ und bewusst zu gestalten, wer du in dieser neuen Lebensphase sein möchtest.
Nicht die Frage «Womit fülle ich meine Zeit?» steht im Mittelpunkt, sondern die Frage:
«Wie möchte ich mich in meinem Leben fühlen – und wer bin ich wirklich, jenseits aller Titel?»
Der Ruhestand ist vielleicht zum ersten Mal der Moment, in dem du die Erlaubnis hast, nicht mehr zu werden, sondern einfach du zu sein.






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